Dialog:

Stadtgespräche:

Was ist unser Erbe?

Beate Heine:
Auf den ersten Blick zeigt sich Wiesbaden als eine schöne und wohlhabende Stadt. Eine Stadt, die auch von ihrem Erbe lebt – kulturell, ökonomisch. Je intensiver ich mich mit Wiesbaden auseinandersetze, desto mehr fallen mir Widersprüche auf. Die Stadt ist sehr viel heterogener, als sie zunächst erscheint. Und diese Widersprüche soll Theater sichtbar machen.

Dorothea Hartmann:
In der ersten Spielzeit stellen wir immer wieder Fragen nach „Erbe“ und „Vermächtnis“: Welches Erbe finden wir vor? Wie gehen wir damit um?

Beate Heine:
Und in die Zukunft gerichtet: Was hinterlassen wir? Was geben wir weiter? Persönlich betrachtet, geht es auch um die Verantwortung gegenüber den zukünftigen Generationen, unseren Kindern.

Dorothea Hartmann:
Was meine Kinder von mir lernen und erben sollen, ist Neugier. Und gleichzeitig innere Stärke und Durchlässigkeit, um mit allem, was im Leben auf sie zukommt, bestmöglich umgehen zu können. Vielleicht ist Neugier auch etwas, das wir Wiesbaden als Erbe hinterlassen, wenn wir irgendwann wieder gehen: Neugier auf unterschiedliche Theaterformen, auf Menschen, auf Dialog miteinander. Damit starten wir jetzt auch – mit der Kommunikation. Wenn das aufgeht, ist es ein gutes Erbe für die Stadt.

Stadtgespräch 1:

Staatstheater Wiesbaden:

Foyer: Großes Haus:
Wiesbaden: eine Stadt voller Gegensätze. Einerseits der Prunk der Gründerzeit-Häuser, der daran erinnert, dass sich hier um 1900 der internationale Kur-Jet-Set erholte. Auch heute bleibt Wiesbaden divers, leben hier Menschen mit rund 55 Nationalitäten zusammen. Andererseits: Arbeitslosigkeit und Armutsgefällesind höher als in anderen hessischen Städten. Die Intendantinnen Dorothea Hartmann und Beate Heine wollen mit ihrem Team der Stadt auf den Grund gehen. Sie haben Menschenaus Wiesbaden zu Gesprächen eingeladen. Das erste findet Mitte Januar 2024 im Foyer des Staatstheaters statt, das zweite Anfang Februar im Restaurant „Das Wohnzimmer” in der Wartburg. So kommen Menschen aus Kirche, Kultur, Schule und Gastronomie mit Theaterleuten zusammen. Dorothea Marcus moderiert das Gespräch und fragt: Was wollen wir vererben, welche Vermächtnisse überliefern? Und wie können sich Stadt, Kunst und Theater besser verbinden?

Dorothea Marcus:

Moderation
Beate Heine:
Dem Thema Erben kann man sich aus sehr unterschiedlichen Perspektiven nähern: kulturell, monetär, gesellschaftspolitisch. Was hinterlassen wir den kommenden Generationen? Welches Erbe haben wir von der vorherigen Generation übernommen? In der Stadt Wiesbaden mit ihren GründerzeitBauten, internationalen Bürger*innen, von denen viele in den 1969er-Jahren eingewandert sind, mit ihrem einst kaiserlichen Theaterbau an exponierter Stelle in der Stadt, wird deutlich, wie virulent das Thema Vermächtnis ist. Erbe und Vermächtnis weisen nicht nur in die Vergangenheit, sondern zeigen immer auch in die Zukunft. Sie fragen außerdem nach sozialer Gerechtigkeit, Verteilung und danach, in welcher Gesellschaft wir leben wollen. Um dem nachzugehen, haben wir den Dokumentartheater-Regisseur Helge Schmidt eingeladen, der für sein Projekt „Unser Erbe. Tax me if you can“ in Wiesbaden recherchieren wird. Nicht zuletzt die Diskussion über Marlene Engelhorn, eine der Nachfahr*innen der Gründer des Chemiekonzerns BASF, die ein Großteil ihres Erbes der Öffentlichkeit zur Verfügung stellen will und die für eine höhere Besteuerung von Superreichen eintritt, zeigt, wie wichtig und aktuell die Themen Verteilung und Teilhabe sind.
Wie wollen Sie mit dem musikalischen Erbe umgehen, gerade in der Oper, wo es eine große Rolle spielt?
Dorothea Hartmann:
Alle darstellenden Künste sind ohne ihr überaus reiches Erbe gar nicht zu denken: Sei es der antike Theater-Gedanke von Gemeinschaft und Fest. Oder die dichte Theaterlandschaft, einst Statussymbol der fürstlichen Hoftheater. Oder die unzähligen Texte und Partituren, die ein gewaltiges Erbe darstellen. Wir knüpfen immer an etwas Vergangenes an. Im Moment einer Aufführung verbindet sich dieses Erbe mit der unmittelbaren Gegenwart. In dieser Spannung steht das Theater. Wenn Puccinis Musik uns heute immer noch packt, dann spielen wir sie natürlich. Jenseits der Klassiker wollen und müssen wir aber auch fragen: Was kann Musiktheater noch alles sein? Wir zeigen eine zeitgenössische Oper aus den 1970er Jahren, György Ligetis „Le Grand Macabre“, zur Eröffnung und wagen gleich danach den Sprung in die Barockzeit. Wir haben eine Komponistin ausgegraben, Barbara Strozzi, die zur Zeit von Monteverdi in Venedig lebte. Ein sehr altes Erbe – von einer Frau. Sie führte einen musikalisch-literarischen Salon mit venezianischen Geistesgrößen, was damals eine absolute Ausnahme war. Diesen Salon wollen wir gleich zu Beginn der Spielzeit wiederbeleben: Wir spielen Strozzis Musik und laden die Stadtgesellschaft zu Gesprächen ein, wie einst in Venedig, ganz spielerisch als Sit-In mitten auf der Hauptbühne.
Wenn man sich den Leerstand in der Innenstadt von Wiesbaden so anguckt – da hat sich viel geändert in den letzten Jahren. Glauben Sie, dass man in einhundert Jahren ein Fünfspartenhaus wie das Staatstheater Wiesbaden noch braucht?
Dorothea Hartmann:
Theater gibt es seit Jahrtausenden. Es hat sich verändert und ist doch im Kern gleichgeblieben als ein Raum für gemeinschaftliches Erleben einer Kunst, die flüchtig ist, die an den einzigartigen Moment der Aufführung gebunden ist. Ich denke, nach solchen Erfahrungen wird es auch in Zukunft eine Sehnsucht geben. Aber wir müssen flexibel und agil sein mit dem Theater. Durchlässig, experimentierfreudig. Schauen, was ist relevant? Dann kann das Theater ein Zentrum mitten in der Stadt sein, an dem die Menschen zusammenkommen möchten für einmalige emotionale Erlebnisse. Ein Ort, an dem sie ihre Themen wiederfinden, wie auch immer künstlerisch transformiert, gespiegelt, erweitert. Ein Raum, in dem sie in Dialog miteinander treten – das wollen wir versuchen.

Beate Heine:
Dazu gehört auch, dass wir das Theater noch weiter öffnen wollen. Der Platz vor dem Staatstheater birgt großes Potential. So, wie das Bowling Green im Winter zu einer großen Schlittschuhlaufbahn wird, würden wir den Raum um das Theater gerne in einen Aufenthaltsort verwandeln. Am Hamburger Schauspielhaus, an dem ich zuletzt gearbeitet habe, gibt es zum Beispiel eine Kantine, in der alle Menschen mittags essen gehen können – ob sie am Theater beschäftigt sind oder nicht. Ähnlich ist es im Blauen Haus in den Münchner Kammerspielen. Das sind großartige Begegnungsorte. Inwieweit es so oder ähnlich auch im Staatstheater, das unter Denkmalschutz steht, realisierbar sein wird, müssen wir uns ansehen.
Oliver Kornhoff, Direktor des Museum Reinhard Ernst, hat schon eine Weile zugehört. Er nimmt Platz auf dem Sofa.
Oliver Kornhoff:
Wäre nicht ein großer Boule-Platz möglich? Und Sitzkissen in den Kolonnaden und auf den Wiesen? Damit wir diese Grünflächen nicht komplett den Nilgänsen überlassen.

Dr. Oliver Kornhoff

Direktor des Museums Reinhard Ernst
Auch Bruno Heynderickx, Ballettdirektor des Hessischen Staatsballetts, schaut vorbei, um Oliver Kornhoff zu begrüßen. Er muss gleich wieder zur Probe, doch er nimmt sich ein paar Minuten Zeit.
Was waren Ihre ersten Eindrücke von Wiesbaden, als Sie vor zwei Jahren von Köln hierher gezogen sind?
Oliver Kornhoff:
Viele haben mir vorher gesagt: Wiesbaden? Da ist doch immer Sonntagnachmittag. Aber erstens liebe ich Sonntagnachmittage – voller Verheißung auf die nächste Woche. Und zweitens ist Wiesbaden, was Kultur angeht, das Gegenteil davon. Tatsächlich ist mir als erstes die Menge an Kulturangeboten aufgefallen, von der Freien Szene bis zu den Flaggschiffen. Ich hoffe natürlich, das Museum Reinhard Ernst bald dazuzählen zu dürfen.

Bruno Heynderickx:
Das mit dem großen Kulturangebot stimmt. Aber ich denke, es könnte gern noch diverser sein. Mehr Menschen sollten die Möglichkeit haben, Kultur zu erfahren.

Bruno Heynderickx:

Ballettdirektor des
Hessischen Staatsballetts

Auf den zweiten Blick:

international und divers:
Als ich das letzte Mal in Wiesbaden war, bei der Biennale 2019, hat im Westend ein Stück zeitgenössischer Kunst für Aufruhr gesorgt: eine vergoldete Erdoğan-Skulptur. Es versammelten sich Menschenmengen davor und diskutierten, fühlten sich provoziert, feierten es aber auch. Selten habe ich so intensiv wahrgenommen, was Kunst auslösen kann. Ist diese Art von Kunstprovokation eine Methode, um mit Menschen ins Gespräch zu kommen?
Beate Heine:
Es gibt verschiedene Wege, Provokation kann einer davon sein. Doch ein anderer ist natürlich, ein Gespräch über Niederschwelligkeit zu führen: Wie können wir Theater für eine neue Generation, neues Publikum öffnen? Wie bringen wir unterschiedliche Generationen zusammen? Wie können wir Stadt und Theater auf unkonventionelle Weise miteinander verbinden?

Oliver Kornhoff:
Interessant ist auch die Provokation, die man erst entdecken muss. Denken wir an die Revolution in der Malerei, die vor kaum 80 Jahren stattgefunden hat: die Abstrakte Kunst. Plötzlich spielte die große Geste eine Rolle, und nicht die Abbildung der realen Welt. Was diese (so genannte) gegenstandslose Kunst in den 1950er Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg ausgelöst hat! Was muss das für eine Provokation gewesen sein! Und dann bin ich mitten in dem Dialog, von dem Frau Heine sprach. Ich will, dass die Menschen aktiviert und involviert aus dem Museum herausgehen. Dazu braucht es Vermittlungsarbeit. Anders kommen wir nicht ins Gespräch.
Und wie kommt man ins Gespräch mit einer Person, die gar nicht sprechen will, sondern vielleicht eher schreit und nicht zuhört?
Beate Heine:
Das ist eine extrem wichtige Frage, vielleicht eine der wichtigsten Fragen überhaupt. Ohne Perspektivwechsel, ohne gegenseitige Offenheit gibt es keinen Dialog. Theater ist immer Experiment, sowohl auf der Bühne als auch im Erproben, wie man miteinander über die Kunst hinaus ins Gespräch kommt. Unsere Vermittlungsangebote setzen stark auf Partizipation. Da wird hoffentlich miteinander gesprochen, aber auch gestritten. Man muss ja nicht immer im Konsens auseinandergehen.
Wie hilfreich oder hürdenreich für eine Einladung zum Dialog ist es, wenn man dafür in einen prächtigen Kaiserzeit-Bau wie das Staatstheater einlädt? Mit solch einem goldverzierten Foyer?
Bruno Heynderickx:
Das Foyer hier ist unglaublich. Es ist sehr repräsentativ für eine bestimmte Schicht der Gesellschaft, aber als Theater müssen wir verschiedene Gruppen der Gesellschaft erreichen. Wir müssen Theater neu denken und vor allem raus gehen in die Stadt. Wir spielen auch im Freien oder auch an ganz anderen Orten. In dieser Spielzeit wird es zum Beispiel eine neue Kreation für jüngere Kinder geben von Célestine Hennermann. Und mit dem mobilen Tanzstück „BAU!“ von Raimonda Gudavičiūtė waren wir schon in mehreren Schulen in der gesamten Rhein-Main-Region.

Oliver Kornhoff:
An Wiesbadener*innen fällt mir auf, dass sie total stolz sind auf das Westend. Und dennoch gehen viele durch das Viertel wie Tourist*innen in der eigenen Stadt. Sie schätzen, dass da die Dönerstube neben dem Köfteladen neben dem syrischen Barbier liegt, dass sämtliche Nationen versammelt sind. Und dennoch gibt es eine Spaltung und viel zu wenig Dialog. Wir müssen daran arbeiten, Vertrauen aufzubauen und zu vermitteln: Das Museum und das Theater sind Orte, wo ihr sein dürft und wo eure Stimmen, eure Augen gefragt sind. Das ist nicht in drei Monaten gemacht, aber wir müssen damit anfangen.

Bruno Heynderickx:
Teilhabe ist ein wichtiges Stichwort. Neben dem umfangreichen Vermittlungsprogramm, das das Hessische Staatsballett in den letzten Jahren entwickelt hat, gibt es einige partizipative Projekte: Zu Beginn der Spielzeit kommt Doris Uhlich für eine große Performance im öffentlichen Raum. Und am Ende der Spielzeit laden wir noch einmal tanzbegeisterte Menschen ein: Gemeinsam mit der Frankfurter Choreografin Hannah Shakti Bühler gibt es im Rahmen der Internationalen Maifestspiele 2025 ein großes „Tanz-Event“ im Freien.

Oliver Kornhoff:
Ich glaube an Kulturorte als Dritten Ort. Also, der Erste Ort ist das Zuhause. Der Zweite Ort ist die Arbeit. Und der Dritte Ort ist eine Art Zwischenzustand, „Home away from home“, hat der Stadtsoziologe Ray Oldenburg dazu gesagt.

Beate Heine:
Es ist unser Ziel, das Theater als solch einen Ort zu etablieren. Den Kulturort so erlebbar zu machen, dass man spürt, dass diese diversifizierende Gesellschaft kooperieren und im besten Fall zusammenhalten kann. Aber auch als ein Ort der Auseinandersetzung. Als ich 2017 am Staatsschauspiel Dresden war, haben wir jeden Montag die Pegida-Demonstrationen vor dem Theater erlebt. Da wurde das Theater zu einem Ort der künstlerischen wie gesellschaftspolitischen Auseinandersetzung. Und ich habe erfahren, dass sich auch Menschen, die vielleicht nicht regelmäßig ins Theater gehen, mit dem Theater in ihrer Stadt identifizieren.
Wie wollen Sie denn Ihr neues großes Museum abstrakter Kunst der Nachkriegszeit für ein großes Publikum öffnen, Herr Kornhoff? Auf den ersten Blick hört sich das Thema etwas spröde an für jüngere Menschen.
Oliver Kornhoff:
Die Chance ist, genau mit dem Missverständnis aufzuräumen, dass das Spröde schwierig sei. Für uns wäre das Schlimmste, das wir hören könnten, dass wir elitär seien. Elitär im Sinne „only for the chosen few”. Der neue Bau entsteht an der Wilhelmstraße 1, im Herzen Wiesbadens. Weil viele Formate unserer Kunstwerke so groß und die Farben so intensiv sind, müssen sich unsere Gäste vor den Bildern bewegen. Das ist eine ganz andere Rezeptionshaltung, fast ein Tanz – und da kann das Theater an uns anknüpfen.
Gibt es da schon konkrete Ideen?
Bruno Heynderickx:
Wir planen gemeinsame, auch spartenübergreifende Projekte. Die Tänzer*innen freuen sich schon sehr darauf.
Bruno Heynderickx verabschiedet sich. Auch Oliver Kornhoff muss aufbrechen und macht Platz für Arami Neumann, die Dekanin der Evangelischen Kirche von Wiesbaden.
Frau Neumann, wie würden Sie, die Sie ja schon länger in der Stadt wirken, die Frage nach Ihrem Vermächtnis beantworten?
Arami Neumann:
Auch mir geht es nicht um Dinge, sondern um inneren Reichtum und um die Fragen: Wo kommen wir her? Was finden wir hier warum vor? Was gilt es, weiterzutragen? Die Formen der Kommunikation verändern sich, aber zentrale Inhalte verändern sich, glaube ich, nicht wesentlich. Mir wäre es wichtig, die Vielfalt und auch die Fundamente, auf denen wir stehen, zu vererben, in der evangelischen Kirche oder im Glauben allgemein.

Pfarrerin Arami Neumann:

Dekanin
Was genau ist Ihre Aufgabe als Dekanin der Evangelischen Kirche?
Arami Neumann:
Rein formal bin ich in Wiesbaden verantwortlich für das kirchliche Leben. Ich bin Dienstvorgesetzte der Pfarrer*innen und helfe den vielen Ehrenamtlichen dabei, dass das kirchliche Leben hier gut stattfinden kann. Das hat viel mit Präsenz in der Stadt zu tun, mit Kommunikation und Gott sei Dank auch mit dem Kulturleben.
Finden Sie, dass Kirche und Kunst etwas miteinander gemein haben, Frau Hartmann?
Dorothea Hartmann:
Ich bin katholisch und kenne die Rituale und Traditionen gut: Weihrauch, die goldenen Gefäße, die Gänge um den Altar – das hat viel mit Theater und Inszenierung zu tun! Darüber hinaus glaube ich, dass Kirche und Theater an einem ähnlichen Kipp-Punkt in ihrer Geschichte stehen: einst zentrale Institutionen in der Gesellschaft, müssen sie sich nun neu ausrichten. Unser Auftrag ist es heute, mit dem Erbe umzugehen und unsere Themen neu zu setzen, ohne das Traditionelle komplett zu negieren: Das Alte muss neu aufgestellt werden. Das kann zum Beispiel bedeuten, Richard Wagners „Fliegenden Holländer” durch einen Regisseur wie Martin G. Berger auf patriarchale Machtstrukturen hin zu untersuchen.

Junge Stadt, alte Stadt:

Dialog zwischen den Generationen:
Auch die Kirche arbeitet stark daran, mehr junge Menschen zu erreichen. Kann Theater von Ihren Strategien lernen?
Arami Neumann:
Auch wir gehen raus aus der Kirche. Wir machen zum Beispiel am Valentinstag Segnungen am Hauptbahnhof, da gehen wir ganz anders, niederschwelliger auf Menschen zu und wollen zeigen, Gottes Segen gibt es nicht nur in der Kirche. Wir haben im Sommer ein großes Tauf-Fest gefeiert im Kurpark, mit toller Musik. Viele aus der Stadt haben sich taufen lassen, auch spontan. Viele Menschen waren aufgrund irgendeiner unsichtbaren Hürde noch nie in einer Kirche. Und wenn wir dann junge Menschen zum ersten Mal in der Kirche begrüßen, gucken sie sich manchmal mit offenem Mund um. Das ist auch eine Einsicht für uns: Wir haben da einen Schatz, den es sich lohnt zu bewahren. Etwas, das nicht umsonst über Jahrhunderte hinweg einen besonderen Wert hatte. Und vielleicht tatsächlich ein bisschen verschüttet ist in einer bestimmten Generation.

Dorothea Hartmann:
Spannend wird es, wenn wir uns verbinden, wenn Kirche und Theater gemeinsam neu definieren, was dieses Gefühl von Gemeinschaft über alle Generationen hinweg bedeuten kann. In dieser Spielzeit ist in diesem Sinne ein großes gemeinsames Projekt geplant mit Joseph Haydns Oratorium „Die Schöpfung“.

Arami Neumann:
Auf dieses Projekt freue ich mich wirklich sehr.

Dorothea Hartmann:
Die Musik entstand vor 250 Jahren. Zugrunde liegt die biblische Erzählung der Schöpfung, also ein zweitausend Jahre alter Text – ein gewaltiges Erbe: Gott erschafft die Welt und, als sogenannte „Krone der Schöpfung“, den Menschen. Wir fragen uns: Wie trifft diese Erzählung auf Fragen der heutigen Gesellschaft, auf Kinder, auf ältere Menschen? Viele haben heute einen sehr düsteren Zukunftsblick. Darüber muss man sprechen. Und gleichzeitig wollen wir die Schöpfung auch feiern und fragen: Ist die Grundlage des Daseins nicht eine wechselseitige Abhängigkeit von Pflanzen, Tieren und Menschen? Oder wie Donna Haraway es formuliert hat: „Wir sind nichts weiter als Kompost.“ Das als Ausgangspunkt für ein großes Stadtprojekt von Kirche und Theater, getragen von Laienchören und Profis, Kindern und Erwachsenen. Wir spielen im Großen Haus und ebenso draußen, auf der Wiese, mit einem wachsenden Komposthaufen.
Das hört sich zunächst einmal fantastisch an. Was ich mich frage: Ist das Singen im Chor nicht eher etwas für Kinder und Jugendliche aus einem bestimmten Typ bildungsbürgerlich orientierter Mittelstandsfamilie? Gibt es da nicht auch indirekte Ausschlüsse?
Arami Neumann:
Das Problem gibt es. Deswegen sind die Kinderchöre der Kirchengemeinden und der Evangelischen Singakademie, meine Töchter singen da auch mit, extrem niedrigschwellig, auch finanziell. Sie werden von der Kirche bezuschusst, sodass wirklich alle dabei sein können. Auch wenn man meint, man könne gar nicht gut singen. Das ist egal in einem Chor. Da gehen die Stimmen ineinander auf zu einem tollen Gesamtwerk. Und das ist eine Transzendenz-Erfahrung. Ich werde in diesem Geschehen zu etwas Anderem.

Dorothea Hartmann:
Wir werden auch mit Schulen kooperieren. Dort ist die Gesellschaft sofort divers. Und darum geht es: Alle zu erreichen und einzuladen für eine größtmögliche Vielfalt der Perspektiven.
Das ist ein gutes Stichwort für die Regisseurin Emel Aydoğdu und die Theaterpädagogin und Dramaturgin Anne Tysiak, die neuen Leiterinnen des JUST.
Emel Aydoğdu, Sie wohnen noch gar nicht in Wiesbaden, darum die Frage: Was ist Ihnen hier als allererstes aufgefallen?
Emel Aydoğdu:
Na auf jeden Fall, dass die Stadt eine sehr prägnante Architektur hat. Und das wirkt erstmal, wow, überwältigend, sehr pompös und ein bisschen einschüchternd, muss ich sagen. Als ich zum ersten Mal mit dem Auto in die Stadt hineinfuhr, habe ich mich ein bisschen gefühlt wie in Wuppertal, so bergauf und bergab hier. Vielleicht wird Wiesbaden ja das neue San Francisco?

Emel Aydoğdu:

Künstlerische Leitung JUST
Ich bin jetzt schon beeindruckt davon, wie viele Kinder und Jugendliche sich in Wiesbaden am Theater beteiligen können. Es gibt Theaterclubs für alle Altersstufen, man kann in Workshops spielen oder tanzen oder Musikinstrumente kennenlernen. Sie wollen in Zukunft die Wartburg als Zentrum für Kinder und Jugendliche aufbauen. Was versprechen Sie sich davon?
Anne Tysiak:
Eine Besonderheit der Wartburg ist ihre geografische Lage. Nur zehn Minuten Fußweg entfernt vom Theater, aber genau auf einer Achse, an der viele Teile der Stadt zusammenkommen, die aber auch als Trennlinie wahrgenommen wird, die man sich nicht zu überqueren traut. Neben der Wartburg liegt ein Dönerimbiss. Auf den ersten Blick ist die Wartburg nicht direkt als Theater erkennbar. Aber genau deshalb hat die Wartburg das Potenzial, noch stärker ein Ort der Begegnung zu werden.

Anne Tysiak:

Künstlerische Leitung JUST
Wie sind Sie selbst denn zum Theater gekommen, Frau Aydoğdu? Auch über Workshops und Clubs?
Emel Aydoğdu:
Als Kind – ich bin mit meinen Eltern 1995 in Deutschland angekommen. Wir wohnten zuerst im Flüchtlingsheim. Dort habe ich meine erste Begegnung mit Clownerie gehabt. Es gab da eine Clowns-Performance, und es gibt eine Aufnahme von mir, wie ich neben meinem Bruder sitze, Augen und Mund weit aufgerissen vor Begeisterung. Das war ein sehr prägnantes Ereignis, das mich dazu angetrieben hat zu suchen: Irgendwo da gibt es Theater, aber wie komme ich da hin? Es war letztlich über die Schule. Und als ich dreizehn war, das ist jetzt über zwanzig Jahre her, habe ich im Schauspielhaus an einem Casting für ein Musical teilgenommen. Dafür musste man tanzen, singen und Musik spielen. Das war meine allererste Begegnung mit einer Kulturinstitution. Danach wollte ich nicht mehr weg.
Wir sind uns hier ja alle einig, aber in Wiesbaden gibt es durchaus Konfliktpotenzial. Etwa um eine Flüchtlingsunterkunft, die in einem denkmalgeschützten Gebäude unterkommt. Dagegen hatte sich eine Bürger*inneninitiative gegründet, die aber abgeschmettert wurde. Wie kann Theater sich bei solchen Konflikten positionieren?
Emel Aydoğdu:
Ich habe, als ich am Theater in Oberhausen war, zwei Jahre lang mit Geflüchteten in einem soziokulturellen Zentrum gearbeitet. Wir haben Texte gelesen, auch wenn nicht jede*r der deutschen Sprache schon ganz mächtig war. Zu Menschen gehen, sie abholen, und dann ihre Stimmen im Theater zu Gehör bringen, das kann und soll eine Bühne leisten.

Arami Neumann:
Die Polarisierung, auch die Art, wie kommuniziert wird, das wird schärfer. Wir müssen viel mehr und deutlich für Menschenrechte einstehen, für Demokratie und für Toleranz, für eine Gesellschaft, die natürlich einen Platz für alle hat, und vor allem für Menschen, die schwach sind. Das kann man nicht oft genug und laut genug sagen.
Rapper Bosca alias David Alexi hat den verschlungenen Weg ins Foyer über den Bühneneingang gefunden. Er kennt das Theater gut hinter den Kulissen, da er hier früher hin und wieder bei der Bühnentechnik gejobbt hat. Man einigt sich schnell auf ein „Du“.
Als Rapper Bosca bist du ziemlich erfolgreich. Wovon ist deine Musik beeinflusst?
David Alexi:
Ich trenn's immer ab vom Gangsterrap. Das ist mir wichtig. Ich bin, sage ich mal, jemand, der schon ziemlich was erlebt hat in seinem Leben und Extreme gesucht hat. Und davon handelt meine Musik, sehr actionreich. Aber auch mit ein bisschen nachdenklicheren Vibes. Viel von meiner Musik findet in Frankfurt statt. Unser Studio ist da, unsere größten Auftritte finden da statt. Und ja, der Frankfurter Sound war immer schon so ein bisschen melancholisch.

David Alexi:

Rapper und Produzent
Du bist in Wiesbaden geboren und aufgewachsen. Was sind für dich die dringendsten Probleme hier?
David Alexi:
Ich habe das Gefühl, dass Jugendkultur hier in der Stadt gar nicht vorhanden ist. Und irgendwie auch nicht versucht wird, sie weiterzubringen. Außerhalb der großen Stadtfeste gibt es hier kaum noch etwas. Es gibt kein Nachtleben mehr, eigentlich alle Discos sind geschlossen. Ich habe auch das Gefühl, dass es von der Stadt her zu wenig Förderung oder Interesse daran gibt, jüngere Leute mit ihrer Kunst zu zeigen.
Was genau würdest du denn brauchen, damit du dich in Wiesbaden besser gefördert fühlst als Künstler? Was kritisierst du konkret?
David Alexi:
Es beginnt damit, dass ein Musikfestival wie „Folklore“, das vielen jungen Leuten sehr wichtig war, in der Stadt einfach abgeschafft wurde. Die geringe Unterstützung und Wertschätzung junger Musiker*innen zeigt sich schon bei Stadtfesten. Die Leute, die dafür Musik-Events buchen, orientieren sich viel zu sehr an kommerzieller Musik und dem, was der Generation 35plus gefällt. Dabei gäbe es so viele junge lokale Bands, die da auftreten könnten. Insgesamt müssten sie viel besser unterstützt werden. Da geht es ums Geld, aber auch um den Zugang zu Probenräumen und Equipment. Übrigens: Danke für die Einladung. Ich mache seit fünfzehn Jahren professionell Musik. Und das ist das erste Mal, dass ich in Wiesbaden irgendwo eingeladen wurde, um mal in einem Gespräch an einem Tisch zu sitzen.
Wie müsste ein Theater aussehen, für das du dich interessieren würdest?
David Alexi:
Wenn ich auf einen Theaterplan gucken würde, was ich eigentlich nicht tue, dann würde ich Stücke sehen wie „Othello“ und irgendwelchen altbackenen Kram. Das interessiert junge Leute eigentlich nicht, oder? Junge Leute interessiert Jugendkultur, Hip-Hop, vielleicht noch Sport. Das sind Themen, mit denen sich das Theater auseinandersetzen müsste. Und dann Leute holen, die sich in diesen Bereichen auskennen. Der Film hat das geschafft in den letzten Jahren, zum Beispiel mit der Serie „Four Blocks“, die Streetkids anspricht, weil eben auch Kids von der Straße mitspielen. Damit kriegt man eine Brücke zu ihnen.
Bevor du gekommen bist, haben wir über gesellschaftliche Spaltung gesprochen, mit der wir im Moment konfrontiert sind. Ist das ein Thema für dich?
David Alexi:
Generell sind Sachen, die auf der Welt stattfinden, auch Themen in meiner Musik. Ich habe verschiedene Phasen, manchmal habe ich Lust, politischer zu werden, manchmal auch gar nicht. In den letzten Jahren war man ja so erschlagen von politischen Themen, dass ich einfach bewusst gesagt habe, ich will das aus meiner Musik raushalten. Man braucht nicht noch einen, der den Zeigefinger hochhebt.
Könntest du dir vorstellen, an einem Crossover-Projekt mit klassischer Musik mitzumachen?
David Alexi:
Rap ist ja auch Crossover und ursprünglich entstanden aus Jazz-Samples. Mittlerweile kann man Musikrichtungen gar nicht mehr so streng auseinanderhalten. In jeder findet etwas statt von einer anderen. So ist Musik immer gewesen, man hat immer was genommen und etwas Neues daraus gemacht. Ich glaube, dass Rap und klassische Musik sogar relativ gut miteinander funktionieren.

Dorothea Hartmann:
Es gibt eine Art uralten Rap – vor vierhundert Jahren – bei dem Komponisten Claudio Monteverdi. Das ist das erste Musiktheater überhaupt: eines, das auf Sprechgesang setzt und nichts mit großer Arie und Pathos zu tun hat. Dafür wurde das Musiktheater einst erfunden. Ich bekomme gerade richtig Lust darauf, damit zu experimentieren.
Und letztlich ist die Geschichte von Othello ja sehr extrem, ein Femizid, der durch Fake News entsteht. Das könnte durchaus als Gangsterrap durchgehen.
David Alexi:
Klar, die Geschichten des Lebens wiederholen sich – es gibt immer Drama, es gibt immer Liebe, es gibt auch immer Gewalt. Aber wenn man junge Leute dafür kriegen will, muss es halt auch jung aussehen.
Nun kommt Gerhard Schulz ins Foyer, einer der Mitbegründer des Wiesbadener Schlachthofs. Er hat schon vorher angekündigt, dass für ihn an Gesprächen das Interessante der Dissens ist.

Gerhard Schulz:

1. Vors. des Kulturzentrums Schlachthof e.V.

Gerhard Schulz, Sie haben den Kulturort Schlachthof vor dreißig Jahren im Kollektiv mit aufgebaut. Was hat sich verändert seitdem?

Gerhard Schulz:
Früher war es tatsächlich ein alter Schlachthof, der genauso gerochen und „geschmeckt“ hat. Man konnte Blut und Fett förmlich spüren, wenn man in den Gebäuden gearbeitet hat. Es war eine wilde Truppe, die ihn deshalb gegründet hat, weil es so einen Ort in Wiesbaden nicht gab. Wir kamen aus der linken Hausbesetzer*innen- und aus der Musik-Szene. Doch Anfang der 1990er-Jahre hatten wir keinen Bedarf mehr an Auseinandersetzungen mit staatlichen Instanzen, auch Polizei genannt. Wir wollten nicht mehr einen politischen Willen durchsetzen, sondern eine kulturelle Idee verwirklichen. Wir haben quasi mit bloßen Händen angefangen. Mittlerweile habe ich BWL studiert, ich stehe nicht mehr an der Tür oder fummel an alten Gemäuern herum. Ich sitze an Tabellen und in Meetings und leite einen kleinen Kulturbetrieb, der einen Teil von Wiesbaden verändert hat.

Staatstragend oder frei?

Wir haben gerade davon gesprochen, wie im Staatstheater Schwellen abgebaut werden können, beispielsweise durch soziokulturelle Initiativen. So etwas findet im Schlachthof bereits statt. Befürchten Sie Konkurrenz?

Gerhard Schulz:
Konkurrenz ist ein Hinweis darauf, dass sich etwas tut. Eine Stadt ist dann cool, wenn sie sich bewegt, wenn viele Leute sich engagieren, wenn es ein aufregendes Leben gibt. Unter diesem Aspekt ist Konkurrenz kein Problem. Als wir die Tür des Schlachthofs geöffnet haben, war der Laden voll und wurde nicht mehr leer. Es war irre, was da abgegangen ist. Auf der anderen Seite hatten wir auch mit vielen Widerständen zu tun, zum Teil aus der Politik, aus der Bevölkerung und auch aus der „eigenen Szene“. Oft haben wir gemerkt, dass eine Stadt wie Wiesbaden überhaupt nicht vorbereitet ist auf die Art von Kultur, die wir ermöglicht haben. Mit der Zeit haben wir jedoch auch Ansprüche an die Stadt gestellt, da wir Geld und Flächen brauchten. In dem Moment, in dem wir eine eigene Organisation mit eigenem Betrieb aufgebaut hatten, wurden andere Bedürfnisse wach. Dann geht es auch um Fragen des städtischen Haushalts. Und dann stehen wir natürlich in einer ganz anderen Konkurrenz mit dem Staatstheater. Das ist eine schwierige Diskussion. Es ist an der Zeit, sie endlich in aller Ruhe zu führen.

Könnten Sie sich eine direkte Zusammenarbeit von Staatstheater und Schlachthof vorstellen? Wie könnte das aussehen?

Gerhard Schulz:
Wir hatten schon das Staatstheater bei uns im Haus, wir waren auch schon mit Nina Hagen im Kurhaus. Musiker*innen vom Rheingau Musik Festival kamen zu uns. Wir sind sehr vernetzt in dieser Stadt. Ich würde mir vielmehr wünschen, dass wir anders über die Bedeutung von Kultur sprechen. Ich habe eine relativ breite Definition. Kultur ist nicht nur, wenn sich Menschen abends im Staatstheater oder im Schlachthof versammeln und künstlerische Produktionen genießen. Sondern Kultur ist, wie wir unseren Alltag gestalten. Kultur gibt Antworten auf Fragen, die mit „warum?“ beginnen. Kultursubventionen sollten viel breiter verteilt werden, um mehr Geld an die sogenannte „Freie Szene“ zu geben. Das „Insolvenz-Aus“ des „Folklore-Festival“, das David Alexi ansprach, ist ein gutes Beispiel dafür.
Bruno Heynderickx ist wiedergekommen, da seine Probe zu Ende ist.
Bruno Heynderickx:
Man kann aber auch nicht Äpfel mit Birnen vergleichen. Das Staatstheater hat ja einen anderen Auftrag.

Beate Heine:
Ich denke, es gibt auch im Staatstheater Formate, die eine Chance bieten, kreativ mit der Freien Szene zu kooperieren. Mit den beiden Festivals des Staatstheaters beispielsweise, den Internationalen Maifestspielen und der Wiesbaden Biennale, haben wir die Chance, unmittelbarer in die Stadt hineinzureichen, freier miteinander zu arbeiten und gemeinsam mit Crossovers zu experimentieren.

Wie sieht das im Tanz aus: Wäre es für Sie denkbar, als Direktor des Staatsballetts, an Orten wie dem Schlachthof zu spielen?

Bruno Heynderickx:
Ich finde, dass der Schlachthof ein wunderschöner Ort ist. Und ja, wir haben mit Tanz schon verschiedenste Plätze bespielt, etwa den Kunstverein, die Kirche, Museen, Hochschulen. Es geht auch im Tanz darum, neue Wege zu finden.

Gerhard Schulz, Sie haben angesprochen, dass der Schlachthof von Kürzungen bedroht ist. Wie ist da Zusammenarbeit möglich?

Gerhard Schulz:
2024 ist der Schlachthof – und die Freie Szene – was Kürzungen betrifft, mit einem blauen Auge davongekommen. Aber alle sagen, dass 2025 und 2026 schwere Jahre werden. Es kann bedeuten, dass die kulturellen Institutionen, mit denen das Staatstheater gerne zusammenarbeiten möchte, in Zukunft in dieser Form nicht mehr existieren. Meiner Ansicht nach bräuchte es ganz neue Allianzen, die Kapazitäten von unterschiedlichen Kulturplayern bündeln oder zusammenführen.

David Alexi:
Ich habe früher manchmal am Schlachthof beim Aufbau gejobbt. Und da merkt man halt schon, dass der Betrieb sehr sparsam wirtschaften muss und wenig Geld da ist. Das finde ich unfair.

Gerhard Schulz:
Man unterstellt mir, ich sei neidisch auf das Staatstheater oder auf das Geld des Staatstheaters. Das bin ich nicht. Ich will auch nicht, dass die Töpfe für Kultur und damit auch der Zusammenhalt der Gesellschaft kannibalisiert werden. In meinem Verständnis von Kultur würde ich den gesamten Haushalt zu einem Kulturhaushalt machen und jede öffentliche Ausgabe, die getätigt wird, zu einer kulturellen Ausgabe machen. Diese würden mit der kulturellen Fragestellung überprüft: Warum sollte eine Gesellschaft dieses Geld ausgeben?

Bruno Heynderickx,Sie haben gesagt, dass es nötig ist, neue Wege zu gehen. Aber kommt nicht manchmal das Traditionelle auch besonders gut an?

Bruno Heynderickx:
Ja, das stimmt. Es gibt kaum etwas Traditionelleres als das Handlungsballett „Der Nussknacker“. Aber genau das ist ein Publikumsmagnet, die Leute strömen da hin, lassen sich davon beglücken. Auch in der Oper und im Schauspiel gibt es Stücke, die als Publikumsmagnet funktionieren, und das soll auch ruhig so bleiben. Wir brauchen beides, eine Vielfalt. Wir zeigen in Wiesbaden Ballett, Zeitgenössischen Tanz, Folklore, Hip-Hop, bringen internationale Gastspiele hierher.

David Alexi, würden junge Leute lieber in einen „Nussknacker“ oder in ein Hip-Hop-Tanz-Event gehen?

David Alexi:
Ich schätze, eher in ein Hip-Hop Event. Aber am Ende des Tages gibt der Erfolg recht. Es ist wichtig, dass Dinge parallel existieren. Auch Straßenkultur braucht ihren Platz. Nur die Qualität sollte immer sehr gut sein.

Bruno Heynderickx:
Wir müssen darüber reden, wie wir alle Menschen mitnehmen können. Ich mag das Wort Hochkultur nicht, es signalisiert, dass nicht alle dazugehören. Es hat auch mit Repräsentation zu tun. Wer repräsentiert mich eigentlich? Wo finde ich mich wieder? Was ist das Gegenüber? Es geht dabei nicht nur um Geld, sondern um Zugänge.

Beate Heine:
Ich glaube, wir teilen alle den Wunsch, durch Kultur eine Wirksamkeit in der Gesellschaft zu erzielen. Wir alle fühlen uns durch das System irgendwie eingezwängt, suchen und finden gleichzeitig Spiel- und Freiräume. Wir haben sehr unterschiedliche Aufträge, das Staatstheater muss Theater für alle machen, aber wir sollten gleichzeitig auch aufmerksam sein, wenn es um kulturelle Interessen geht, wo wir solidarisch sein können.

Dorothea Hartmann:
Ich war zwölf Jahre lang in Berlin, dort war ich auf beiden Feldern tätig: Einerseits in der Deutschen Oper Berlin, dem zweitgrößten Opernhaus in Deutschland. Als ich 2012 dort anfing, haben wir eine zweite Spielstätte gegründet, um eine Brücke zur Freien Szene zu schlagen. Zuerst gab es exakt die gleichen Diskussionen über Mittelverteilung. Es war ein hartes und raues Pflaster. Am Ende hat uns die Planung von gemeinsamen Produktionen zur Solidarität verholfen. Als Intendantinnen des Staatstheaters wollen wir zu Kooperationen finden, die diese Stadt verändern. Also lasst uns über gemeinsame Visionen sprechen.

Gerhard Schulz:
Es wäre schön, wenn wir diese Türen gemeinsam aufmachen. Die Freie Szene Wiesbaden ist bereit für diesen Schritt. Dazu gehört die Diskussion um die Verteilung der Kultur-Subventionen! Wenn auch Sie sich das trauen – lassen Sie uns diesen Weg gehen, selbst wenn es nicht einfach wird und wir uns bestimmt streiten werden. Aber ich bin sicher, wenn wir konstruktiv in die Situation reingehen, kann Großes dabei herauskommen.
v.l.n.r.: A. Tysiak, E. Aydoğdu, B. Heine, D. Hartmann, G. Schulz, D. Alexi

Stadtgespräch 2:

Ein Wohnzimmer als Tor zur Welt

Der zweite Teil der „Stadtgespräche“ findet einige Wochen später im „Wohnzimmer“ der Wartburg statt, mit einer Atmosphäre zwischen Pariser Salon und Berliner Kiez. Es liegt in der Schwalbacher Straße, auch „Tor zum Westend“ genannt. Bald wird hier das spartenübergreifende Junge Staatstheater (JUST) einen eigenen Ort bekommen. Mit Schüler*innen, Lehrer*innen und Kulturliebenden aus der Stadt geht es im Gespräch darum, wie sich das Theater für neue Bevölkerungsschichten öffnen kann und welches Erbe Kulturinstitutionen heute noch vermitteln können. Es gibt Kaffee und Catering vom Restaurant „Fasan“ um die Ecke – dessen Chef nachher auch mitdiskutiert.
Als erstes setzen sich der Chef des Lokals, Patrick Eckelmann, und Dr. Andreas Henning vom Landesmuseum Wiesbaden auf das blaue Wohnzimmersofa.
Wir sitzen hier nicht zufällig in einem Lokal namens „Wohnzimmer“. Warum, Patrick Eckelmann, haben Sie es so genannt, als Sie es 2015 übernommen haben? Denn eigentlich haben hier schon viele andere Dinge stattgefunden: Einst war es ein Bhagwhan-Meditationszentrum, dann wieder eine russische Disco. Mit welchem Konzept gelingt es hier, so viele unterschiedliche Leute hereinzuholen, in vielen Altersstufen?
Patrick Eckelmann:
Schon zu Beginn haben mein Geschäftspartner und ich gesagt: Wir wollen ein Platz werden für jede*n in Wiesbaden. Unsere Ideen dafür haben wir tatsächlich im heimischen Wohnzimmer entwickelt. Und haben festgestellt, dass wir Dinge anbieten wollen, die man eben im Wohnzimmer macht. Bei uns kann man Fußball gucken, aber auch Salsa tanzen oder Live-Musik hören. An jedem Wochenende schaffen wir den Spagat zwischen Restaurant, Barbetrieb und Disco, ab 23 Uhr, da wird es hier ein bisschen dunkler und gemütlicher, dann fängt der DJ an. Wir haben gesagt: Wir wollen hier jede*n Wiesbadener*in gerne mal sehen. Das ist in den letzten neun Jahren nicht schlecht gelungen.

Patrick Eckelmann:

Geschäftsführer des Wohnzimmers
Aber kommen denn auch Leute aus dem angrenzenden Westend? „Dass sich durch das Überqueren einer Straße eine andere Welt öffnet, habe ich selten so stark erlebt wie hier“, habe ich in einem Reiseführer von Wiesbaden gelesen.
Patrick Eckelmann:
Ja, es kommen wirklich alle Leute, verteilt auf verschiedene Veranstaltungen. Der Fußball vereint ja ohnehin sämtliche Kulturen und Geschlechter. Wir haben eine gute Mischung von kulturellen Hintergründen und Denkweisen. Die wollen auch mal Fußball sehen, Spaß haben und Party machen, oder einfach bei uns trinken oder essen.
Herr Dr. Henning vom Landesmuseum Wiesbaden, Sie waren Kurator für italienische Malerei an der Staatsgalerie Dresden und sind im Jahr 2020 nach Wiesbaden gekommen – was ist denn hier anders als in Dresden?
Andreas Henning:
Was mir und meiner Frau sofort auffiel, war die Entspanntheit der Stadt. Man nimmt sich gegenseitig wahr, man lächelt sich auch mal zu. Es ist eine Stadt für Flauneur*innen, der Entschleunigung, perfekt zum Spazierengehen. Dresden ist da etwas anders. Dort erlebt man andere Herausforderungen. Das hat natürlich auch mit der DDR-Vergangenheit und den vielen arbeitsbiografischen Brüchen zu tun.

Dr. Andreas Henning:

Direktor des Landesmuseums Wiesbaden
Patrick Eckelmann, Sie sind in Wiesbaden aufgewachsen. Ist Entspanntheit das, was Ihnen zuerst für Wiesbaden in den Sinn kommen würde?
Patrick Eckelmann:
Ich kann nicht von der Hand weisen, dass es hier entspannt ist. Aber ich glaube, Wiesbaden würden mehr Lebendigkeit und Farbe guttun. Ich wünsche mir mehr Veranstaltungen und Angebote für Jugendliche, mehr Musikangebote, Weiterbildungsmöglichkeiten. Am besten sogar eine Uni! Da spreche ich auch für meine Gastronomie-Kolleg*innen hier in der Stadt. Die meisten jungen Menschen wandern ab nach Frankfurt, das ist schade.
Das „Wohnzimmer“ liegt in der Wartburg, einem der schönsten Gebäude der Stadt. Was bedeutet es, dass hier auch eine Spielstätte des Theaters ist?
Patrick Eckelmann:
Es bedeutet vor allem eine tolle Chance für Synergieeffekte. Wir freuen uns sehr, dass sich die Theaterstruktur etwas verändert, und wir sind total offen für jegliche Ideen mit dem Theater. Ich glaube, dass sich sowohl Theater als auch Museen momentan fragen müssen, wie sie junge Leute begeistern können.
Um diese Frage kreisen momentan viele Kulturinstitutionen. Vielleicht haben Sie als Chef des „Wohnzimmers“ Ideen? Hier ist es ja schließlich immer voll.
Patrick Eckelmann:
Ich denke, es sollten Themen aufgegriffen werden, die Jugendliche aktuell interessieren: Klimaschutz, Nachhaltigkeit, vielleicht auch das Gendern. Eine lebendige Kooperation hier im „Wohnzimmer“ könnte auch unterstützen: vielleicht, dass jeder Besucher des Theaters mit seiner Eintrittskarte ein Getränk für den halben Preis bekommt.
Das Landesmuseum hat ja bereits viele Angebote für Jugendliche, es gibt einen Jugendkunstclub, Jugendliche führen selbst durchs Museum und vieles mehr. Wie wird das angenommen, und haben Sie das Gefühl, dass das Interesse von Jugendlichen an Museen im digitalen Zeitalter abgenommen hat?
Andreas Henning:
Wir stehen natürlich in Konkurrenz zum Digitalen, klar. Aber ich glaube auch, die Lust am physischen Tun, am sinnlichen Erleben, bleibt wichtig – und ist sogar zukunftsentscheidend für die Weiterentwicklung unserer Gesellschaft in Zeiten digitaler Surrogate und Abkapselungen. Im letzten Jahr konnten wir über achthundert Gruppen von Jugendlichen, Kitas und Schulklassen erreichen – und zwar auch, indem sie im Museum selbst kreativ tätig werden konnten. Wir experimentieren mit vielen Formaten – einfach nur eine Führung für Publikum anzubieten, das ist zu wenig heute.
Und wie könnte es im Landesmuseum Wiesbaden gelingen, dass Menschen aus dem Westend zu Ihnen kommen?
Andreas Henning:
Wir begrüßen ein vielfältiges Publikum im Haus, aber uns ist schon auch klar, dass wir nicht alle erreichen. Wir versuchen, mit verschiedenen Strategien dagegen zu steuern. Wir arbeiten noch stärker mit Schulen und Kitas zusammen. Häufig kommen Kinder so zum ersten Mal überhaupt ins Museum, weil ihre Eltern nicht dorthin gehen. Umgekehrt kann es passieren, dass Kinder dann aus Begeisterung ihre Familien mitbringen. Und dann haben wir jeden ersten Samstag im Monat freien Eintritt und sind wirklich für jeden zugänglich, um die Barrieren Zeit und Geld zu umgehen. Man kann für zehn oder zwanzig Minuten mal nur neugierig gucken.
Wie sind Ihre Erfahrungen damit? Kommen dann ganz andere Menschen oder kommen dieselben?
Andreas Henning:
Das ist eine interessante Mischung. Es kommen ganz andere Menschen und viele, die zum ersten Mal im Museum sind. Aber auch auf manche Mitglieder aus dem Freundeskreis des Museums wirkt dieser Tag eine besondere Anziehung aus. Wir haben an diesem Tag dann oft bis zu zwei- oder dreitausend Gäst*innen. Alle bringen Freund*innen oder Familie mit, das kommt sehr gut an.
Und was könnten Sie dem Theater konkret raten, damit es den Zuschauer*innenkreis erweitert, Patrick Eckelmann?
Patrick Eckelmann:
Puh, schwierige Frage. Ich traue mir erstmal nicht zu, die Arbeit von Profis aus dem Nichts besser zu machen. Aber weil Sie vorhin fragten, ob das Digitale mit Kulturangeboten konkurriert – das geht für mich schon mal in eine falsche Richtung. Man sollte Social Media vor allem als Ergänzung sehen. Anhand von Follower*innen auf Instagram zum Beispiel kann man ja sehen: Was ist gerade das Thema, was interessiert die Leute? Und natürlich, Leute über Social Media direkt ansprechen. Ihnen zu ermöglichen, etwas interaktiv mitzugestalten. Also: welche Welten können Sie anzapfen, um Trends zu erkennen? Wie können Sie sich in die Lage der Zielgruppen hineinversetzen?
Der Hornist Jonas Finke setzt sich dazu. Er kommt gerade von der Probe.
Jonas Finke, Sie sind Musiker, Hornist im Staatsorchester. Wie kommt man eigentlich als Sechsjähriger darauf, Hornunterricht zu nehmen?
Jonas Finke:
Ich würde es mal so formulieren: es war nicht meine eigene Entscheidung.
Sind Sie etwa gezwungen worden von Ihren Eltern?
Jonas Finke:
Nein, das natürlich nicht. Ich komme aus einem musikalischen Haushalt, meine Eltern sind beide als Sänger*innen ausgebildet und haben sich so auch kennengelernt. Ich hatte als Kind regelmäßige Lungenentzündungen. Damals wiesen Studien nach, dass Blasinstrumente bei der Behandlung von Atemwegskrankheiten gute Auswirkungen haben. Und den ersten freien Platz im Unterricht gab es beim Horn. In der Probestunde habe ich beim ersten Ansetzen einen Ton herausbekommen – und der Lehrer meinte sofort: ja, der hat Talent.

Jonas Finke:

Stellv. Solo-Hornist und Orchestervorstand
In einen musikalischen Haushalt hineingeboren zu sein, ist ja auch so eine Art Erbe oder Vermächtnis. Waren Sie dafür immer nur dankbar oder gab es auch Phasen, in denen Sie dagegen rebelliert haben?
Jonas Finke:
Ja, klar, typische Phasen, aber das hatte bei mir eher die Auswirkung, dass ich zu wenig geübt habe. Später bekam ich das Feedback, dass ich auf einem Niveau angekommen war, wo ich darüber nachdenken konnte, das beruflich zu machen.
Ähnlich wie Museen und Theater leidet die klassische Musik heute darunter, dass weniger junge Menschen als Publikum nachwachsen. Haben Sie eine Idee, wie man das ändern könnte?
Jonas Finke:
Konzertatmosphäre hat manchmal etwas von Frontalunterricht – interessiert junge Menschen nicht. Mit Musik an ungewöhnlichen Orten habe ich die besten Erfahrungen gemacht, was neues Publikum betrifft. In Berlin haben wir in einem ehemals besetzten Haus gespielt. Es war verraucht, WG-Atmosphäre. Das Orchester hat in Kleinstbesetzung gespielt, nur siebzehn Leute, es war ein komplett anderes Publikum als sonst. In diesem Sinne fand ich die Idee von Patrick Eckelmann, einfach kleinere Combos zum Spielen ins „Wohnzimmer“ zu holen, richtig spannend. An intimeren Orten findet eine ganz andere Art der Kommunikation statt.
Patrick Eckelmann: Im „Wohnzimmer“ wäre das sicher spannend.

Andreas Henning:
Auch im Museum öffnet Musik die Sinneswahrnehmung, beleuchtet die Bilder auf spannende Weise, insbesondere auch abstrakte Kunst.

Jonas Finke:
Malerei kann großartige Inspiration sein für Improvisation. Dabei ist man als Musiker*in ihrem*seinem Instrument sehr nahe und musiziert ganz selbstverständlich. Da fällt auch ganz schnell die Barriere zum Publikum. Wir haben bei unserer Orchesterakademie, so heißt unser Programm für Nachwuchsmusiker*innen, Improvisationsunterricht, und jährlich findet auch ein improvisiertes Konzert statt, das sehr beliebt ist.

Andreas Henning:
Ich lade die Orchesterakademie gerne mal zu uns in die Ausstellungsräume zum Improvisieren ein. Denn wenn man verschiedene Kunstgattungen zusammenführt, öffnen sich die Sinne und man tritt in eine intensivere Form der Wahrnehmung! Gilt natürlich auch für das ganze Staatstheater, ich freue mich schon sehr auf unsere Kooperationen mit den neuen Intendantinnen.

Jonas Finke:
Aber gerne! Das kann allerdings wild werden – seit einiger Zeit experimentieren einige Orchestermusiker*innen um unseren Tubisten Roland Vanecek mit akustischem Techno, in der Tradition von Bands wie „Meute“ aus Hamburg, die Blechbläser, Xylophone, Elektronik und EDM-Tracks kombiniert und live performt. Ein großartiges Crossover .

Mit und ohne Worte:

Kunst und Kultur für junge Menschen
Susanne Lewalter, die Leiterin des Literaturhauses, betritt das „Wohnzimmer“ und setzt sich.
Frau Lewalter, Sie haben mir erzählt, dass Sie sogar als Kleinkind in die Oper geschleppt wurden. Heute leiten Sie das Literaturhaus Villa Clementine. War der Weg zur Musik damit also verstellt?
Susanne Lewalter:
Mein Vater war ein Musikfanatiker. Der hat fast sein ganzes Privatleben in der Oper verbracht, und ich bin schon als kleines Kind mit meinen Eltern an den Wochenenden und auch manchmal unter der Woche in die Oper mitgenommen worden. München, Stuttgart, Zürich waren so unsere Stammhäuser, bis hin zu den Salzburger Festspielen. Also ich bin schon gleich mit ganz großen Stimmen im Kleinkindalter verwöhnt worden.
Höre ich da einen ironischen Unterton?
Susanne Lewalter:
Ich spiele Klavier und habe ein paar Semester Musikwissenschaft studiert. Ich liebe Musik bis heute und habe über diese Erlebnisse viel mitgenommen. Aber Überforderung war natürlich auch dabei, meine Eltern waren schon ganz schön extrem. Beruflich bin ich dann bei der Literatur gelandet – das kommt von der mütterlichen Seite – mein Elternhaus war auch ein Haus der Bücher.

Susanne Lewalter:

Leiterin des Literaturhauses Villa Clementine
Konnten Sie diese Leidenschaft für die Oper weitergeben an die nächste Generation, so wie Ihr Vater die Leidenschaft an Sie weitergegeben hat?
Susanne Lewalter:
An die Oper weniger, aber schon an die klassische Musik, aber eher in Richtung Sinfoniekonzerte. Bis zur Pubertät ist mein Sohn gerne mit mir in Konzerte gegangen. Doch seitdem hört er leidenschaftlich gerne Independent-Bands und kaum noch klassische Musik.
Besetzte Häuser gibt es in Wiesbaden nicht, aber natürlich ungewöhnliche Orte – was könnten Sie sich da vorstellen?
Jonas Finke:
Vielleicht in der leerstehenden Galeria Kaufhof zu spielen. Oder in der CityPassage, die auch schon mit Theater bespielt wurde, das ist offensichtlich gut aufgegangen.

Susanne Lewalter:
Die Biennale 2019 hat unglaubliche Orte bespielt, ein Pornokino, aber auch bis dahin ungenutzte, kahle Dachterrassen. Orte habe ich da in Wiesbaden entdeckt, die ich niemals für möglich gehalten hätte. Zum Beispiel das Alte Gericht, als es noch nicht saniert war, mit seinen Gefängniszellen im Keller.
Susanne Lewalter, reichen Bücher allein als Attraktion noch aus?
Susanne Lewalter:
Ja, auf jeden Fall. Aber es ist immer schön, Literatur noch auf weitere Art und Weise lebendig zu machen und dadurch Kindern und Jugendlichen, die vom Elternhaus nicht an Bücher herangeführt werden, die Möglichkeit zu bieten, sie zu entdecken. Wir haben dafür eine Art Mischkonzept. Wir holen Schulklassen zu uns ins Literaturhaus in die Villa Clementine, damit sie diese schöne alte Villa auch mal von innen sehen und damit sie erleben können, was in einem Literaturhaus überhaupt stattfindet. Von außen denken viele, die Villa sei uncool und abweisend. Und wenn sie dann plötzlich drin sind, finden sie es richtig super und sind begeistert von der Architektur. Darüber hinaus finde ich es wichtig, mit Veranstaltungen auch mal hinaus an andere Orte zugehen, um ganz andere Leute zu erreichen. Wir experimentieren. Auf jeden Fall ist die Vermittlung von Literatur gerade durch den Pisa-Schock noch viel wichtiger geworden.

Wie will ich leben?

Und was haben Sie sonst noch für konkrete Konzepte?

Susanne Lewalter: Seit etwa anderthalb Jahren veranstalten wir den so genannten „Anderen Salon“, im früheren Café. Da finden zum Beispiel Comic-Lesungen statt, bei denen die Bilder auf die Leinwand projiziert werden, während die Comic-Zeichner*innen vorlesen. Wir veranstalten Lesungen mit Musik oder mit jungen Nachwuchsautor*innen. Das lockt ein jüngeres Publikum an. Gerade sehr gefragt sind interaktive Workshops zu Lebensthemen und Sinnfragen im Allgemeinen. Gerade nach der Pandemie, durch die Vereinzelung, haben sich viele Menschen mit solchen existenziellen Fragen beschäftigt: Wie möchte ich mein Leben gestalten? Es ist ein Bedürfnis vieler Menschen geworden, nicht nur passiv Kultur zu konsumieren, sondern in den Austausch zu kommen.

Gehen Sie mit Literaturformaten auch hinaus in die Stadt?

Susanne Lewalter: Wir kooperieren viel mit anderen Kultureinrichtungen und Buchhandlungen. Vor ein paar Jahren haben wir ein Lesezelt in einem Park aufgebaut für kleine Kinder und Familien, wo Schauspieler*innen gelesen haben.

Bei der Lit.Cologne in Köln gibt es nun die Pop.Lit. Da trafen sich viele, von denen ich gar nicht gedacht hätte, dass sie für Bücher überhaupt noch zugänglich wären, da sie Digital Natives sind. Aber es gibt nun einmal die Diagnose, wir können sie nicht von der Hand weisen, dass das Digitale das Schriftliche verdrängt. Eine riesige Gefahr für das Buch, oder sehe ich das zu kulturpessimistisch?

Susanne Lewalter: Ich denke, es gibt neue, spannende Phänomene rund um das Lesen. Bei der letzten Frankfurter Buchmesse war ich gleichzeitig fasziniert und leicht verstört. Ich war dort am ersten Publikumstag und sah meterlange Schlangen vor den Verlagsständen der Fantasy-Romane. Es gibt da ein neues Genre, New Adult Romance heißt es, das sind Liebesromane, die von jungen Leserinnen geradezu verschlungen werden und einen wahren Fankult mit sich bringen. Auf der Buchmesse werden riesige Bücherpakete samt Signierkarten gekauft. Also – das Buch lebt. Natürlich ist es auch eine Frage der Qualität. Aber Fakt ist: Es wird gelesen. Ich glaube, man darf nicht auf dem hohen Ross sitzen und denken: Das ist jetzt keine Hochkultur. Ich finde es zunächst einmal wichtig, überhaupt die Faszination fürs Lesen zu wecken.

Susanne Lewalter und Andreas Henning verabschieden sich, und Leo McFall, der neue Generalmusikdirektor, kommt vorbei. Viel Zeit hat der Dirigent aus Großbritannien nicht, denn sein Tag ist noch mit vielen anderen Begegnungen in der Stadt verplant.

Leo McFall, warum ist es auch heute immer noch sehr viel leichter, Menschen in eine berühmte Mozart Oper als in ein zeitgenössisches Werk von etwa Helmut Lachenmann einzuladen?

Leo McFall: Ich habe genau die gegenteilige Erfahrung gemacht.

Ernsthaft? Auch in Deutschland?

Leo McFall: Überall. Es ist natürlich ein Unterschied, ob wir über Zwölf- oder Achtzehnjährige sprechen. Aber die jungen Leute kann man für Opern wie „Jenůfa“ von Leoš Janáček begeistern. Die Darstellung der Charaktere ist so klar und ungefiltert, die Spannung zwischen ihnen ist direkt greifbar: Da kämpfen zwei mutige Frauen vor dem Hintergrund einer beengten ländlichen Gemeinschaft um ihr Glück. Jeder dieser Figuren könnte man auch leicht in der heutigen Gesellschaft begegnen. Das spricht alle Menschen an, und vielleicht ganz besonders Jugendliche.

Und im Konzert? Dort muss man ohne Geschichten begeistern.

Leo McFall: Ich bin überzeugt, dass Musik immer noch unsere größte Attraktion ist. Sie unmittelbar wirken zu lassen, ist ein starkes Mittel. Das geht zum Beispiel, wenn man das Publikum ganz nah an sich heranlässt und eine Konzertsituation schafft, in der die Menschen mitten im Klang sitzen können. Genau das werden wir im Kurhaus anbieten, für Schulklassen vormittags und als After Work-Format am frühen Abend. Wir nehmen die Stühle raus aus dem Parkett und verteilen Sitzsäcke mitten im Orchester. Unsere Besucher*innen spüren so die Vibrationen der Musik in ihrem Körper. Wir spielen die 1. Sinfonie von Johannes Brahms in diesem besonderen Konzert, eine inspirierende Reise von der Dunkelheit zum Licht. Eine wunderbare Botschaft in der heutigen konfliktgeprägten Welt. Und wir wollen auch kleinere Orchestergruppen gründen für Konzerte an ungewöhnlichen Orten im Theater und in der Stadt.

Jonas Finke: Generell finde ich wichtig, dass Kulturräume Orte der Gemeinschaft sein sollten, viel mehr noch als bisher. Orte, an denen man nicht Kunst und Kultur konsumiert, sondern hingeht, um sich zu treffen und auszutauschen. So wie wir es gerade hier im „Wohnzimmer“ machen. Die Kunst sollte ins Alltagsleben geholt werden.

Leo McFall: Dazu gehört auch, gemeinsam zu feiern. Für ein großes Konzertfest am Ende der Spielzeit öffnen wir alle Bühnen im Theater und bespielen sie unter dem Motto „Let’s dance“: Mit einem Konzertprogramm auf der Großen Bühne und dann weiter in den Foyers mit allen Sparten bis hin zu einem late night Konzert „Geteilte Pulte“: Hier werden Wiesbadener Bürger*innen mit Profis gemeinsam spielen. Ein Höhepunkt des Abends ist eine Uraufführung von einer jungen Komponistin, die uns als „Composer in residence“ über die ganze Spielzeit begleiten wird: Dariya Maminova. Sie kommt von der Neuen Musik, aber auch vom Pop und von transkulturellen Experimenten. Das wird spannend, wie sie ihre Musik mit Wiesbaden verbinden wird.

Esma Deliter und Hendrik Schücke, fünfzehn und siebzehn Jahre alt, kommen dazu. Esma geht auf die Werner-vonSiemens-Schule und spielt schon seit langem im Theaterclub, gerade probt sie für das Stück „Orlando“. Hendrik Schücke geht auf die Carl-von-Ossietzky-Schule und sitzt im Jugendparlament der Stadt Wiesbaden.

Hendrik, was sind für dich die drängendsten Themen hier in der Stadt?

Hendrik Schücke: Ich finde am problematischsten die aktuelle Haushaltskürzung im Sozialetat. Das betrifft viele Jugendzentren und Organisationen, viele Stellen bei freien Trägern müssen gestrichen werden, die für Integration von sozial schwächeren Familien zuständig sind. Die wiederum könnten, wenn sie gut integriert wären durch diese Gelder, ins Theater gehen. Also betrifft das indirekt auch das Theater.

Und du Esma, was siehst du als das größte Problem aus der Perspektive einer 15-Jährigen?

Esma Deliter: Mich nerven gerade vor allem die Busse, die Verspätung haben. Viele Schüler*innen kommen deshalb zu spät. Den Eintrag im Klassenbuch bekommt man, obwohl es nicht das eigene Verschulden ist. Aber man kann man nichts daran ändern, egal wie früh man losfährt.

Esma, was begeistert dich am Theater?

Esma Deliter: Vor allem gefällt mir, dass ich jemand werden kann, der ich nicht wirklich bin. Und mir gefällt auch der Blick hinter die Bühne. Ich spüre die Aufregung, die herrscht, kurz bevor alle auf die Bühne gehen. Und ich genieße sie gleichzeitig. Das finde ich faszinierend. Gerade proben wir im Partizipationsprojekt vom JUST das Stück „Orlando”, das im Juni 2024 Premiere hat. Das ist auch wieder total spannend!

Insta, TikTok und Theater:

Geht das?
Wann warst du zum ersten Mal im Theater?

Esma Deliter: Ich war mit der Schule im Weihnachtsmärchen.

Würdest du dem zustimmen, dass sich junge Menschen heute nicht mehr fürs Theater interessieren?

Esma Deliter: Es stimmt, dass viele Jugendliche heute nicht mehr ins Theater gehen. Ich glaube, es liegt daran, dass sie durch die Digitalisierung, durch Apps wie TikTok, vom Alltag abgelenkt sind. Realität interessiert sie nicht so. Außerdem denken viele, Theater sei langweilig. Ich hatte damals im Weihnachtsmärchen aber echt viel Spaß, und seitdem liebe ich das Theater.

Hendrik Schücke: Ich würde nicht behaupten, dass Theater out ist. Ganz im Gegenteil, ich selber gehe mit Freund*innen oft ins Theater, auch ins JUST. Da spielen Freund*innen von mir mit. Es ist einfach etwas anderes als zu Hause zu chillen und eine Serie zu gucken. Theater holt einen mit Energie aus dem Schulalltag heraus. Man müsste das Angebot nur attraktiver gestalten, oder besser: es attraktiver kommunizieren. Nicht als schulische Pflichtveranstaltung. Sondern über Insta oder TikTok, wo die meisten unterwegs sind.

Was machen Theater denn falsch in der Kommunikation?

Hendrik Schücke: Also, die vielen Flyer adressieren sich vor allem an ältere Leute, die wohlhabende Oberschicht. Es müsste einfach breiter kommuniziert werden, simpler gestaltet. Wie in einem Instagram-Reel: Eine Person stellt sich vorne hin, erzählt etwas, kombiniert mit einem coolen Ausschnitt aus einer Inszenierung. Gerade die Musicals sind so gut. Und es ist live, so: hey, das passiert tatsächlich jetzt gerade. Und vielleicht sollten die Theater direkt an Schulen vorbeikommen und Werbung machen. Gerade jetzt können Sie das doch gut machen, so nach dem Motto: Wir sind neu und denken viel darüber nach, wie wir euch erreichen können. Wir brauchen eure Tipps.

Dorothea Hartmann: Genau deshalb reden wir mit euch! Genau dieses Feedback von euch ist wichtig: Da bleiben wir dran!

Hendrik Schücke: Es geht auch um den Inhalt. Viele Stücke sind auch einfach für Bildungsbürger*innen verfasst. Für Jugendliche müssen es irgendwie auch coole Inhalte sein. Themen, die Jugendliche interessieren.

Was wären solche Themen?

Hendrik Schücke: Zum Beispiel psychische Erkrankungen. Vor allem als Folge der Pandemie. Das bekomme ich von vielen Freund*innen mit. Was macht man da, und wie kann man präventiv dagegen vorgehen? So etwas könnte man in Stücken zeigen. Und Themen, über die Jugendbuchautor*innen schreiben: Trauer, soziale Unterschiede, Liebessorgen. Wer kennt es nicht? Man hat einen Crush, traut sich aber nicht, die Person anzusprechen.

Esma, was wären für dich Themen, die du gerne auf der Bühne verhandelt sehen würdest?

Esma Deliter: Ein Thema, das mich sehr interessiert, ist die Frage der Identität. In „Orlando” etwa geht es darum, dass ein junger Mann plötzlich eine Frau wird und sich ganz anders identifiziert. Wie man sich wahrnimmt, sich selbst definiert, das sollte im Theater verhandelt werden, denn es wird darüber zu selten gesprochen.

Deine eigenen Eltern sind vor rund dreißig Jahren aus der Türkei eingewandert. Was würden sie im Theater gerne sehen?

Esma Deliter: Meine Mutter hat früher selbst Theater gespielt und ist auch öfter mit mir ins Theater gekommen. Mein Vater dagegen spricht nicht perfekt Deutsch. Daher versteht er auch oft die Stücke nicht so gut. Wo er früher gewohnt hat, waren die Menschen sehr arm, dort kannten sie so etwas wie Theater gar nicht. Was mein Vater sich aber wünschen würde, wären zum Beispiel Märchen oder Geschichten aus der Türkei. Oder dass auch mal andere Sprachen mit einbezogen werden. Ich glaube, das wäre wirklich cool.

Beate Heine: Das sind Fragen, mit denen wir uns in unserem Spielprogramm beschäftigen werden, wer erzählt aus welcher Perspektive und kulturellen Prägung welche Geschichten? Das Theater zu öffnen, heißt eben auch, viele diverse Geschichten zu erzählen. So wird das Künstler*innen-Kollektiv Rimini Protokoll eine international kooperierende Produktion realisieren, unter anderem mit dem Theaterfestival im rumänischen Sibiu, die die universelle Frage stellt, was eine Generation von der nächsten erwartet. Wir nennen es „Futur4“ und beziehen uns auf ein konkretes, relativ unbeachtetes historisches Ereignis: In der Zeit zwischen 1968 und 1989 wurden von der BRD für eine Milliarde D-Mark deutschstämmige Menschen aus Rumänien herausgekauft und eben auch ‚weg von ihrer eigenen Geschichte’. In der Inszenierung wird sich eine junge Frau mit der Geschichte ihrer Eltern und Großeltern auseinandersetzen. Und damit über ihre eigene Zukunft nachdenken. Aber Esma, kommt denn dein Vater ins Theater, wenn du auf der Bühne stehst?

Esma Deliter: Ja. Aber er kommt nur, um mich zu unterstützen, um mir zu sagen, ja du schaffst das. Das meiste versteht er nicht. Ich glaube wirklich, dass die Sprache da eine große Rolle spielt.

Hendrik Schücke: Ich gebe dir völlig recht. Vielleicht ist auch die altertümliche, lyrische Sprache vieler Schauspiel-Klassiker ein grundsätzliches Problem: Sie spricht eine akademische Oberschicht an, Menschen, die das studiert haben. Könnte man das nicht in heutige, normale Sprache übersetzen?

Beate Heine: Im großen Haus wird der Regisseur Stefan Pucher „Woyzeck“ von Georg Büchner inszenieren. Eine Geschichte über sozial prekäre Verhältnisse und eine daraus resultierende existenzielle Verzweiflung über das Leben. Themen, die uns auch heute berühren und beschäftigen. Zudem ist „Woyzeck“ Schulstoff. Der Regisseur ist zu Hause in der Popkultur und hat in seiner künstlerisch-ästhetischen Umsetzung ein junges Publikum im Blick. Und das wird hoffentlich einen Zugang zu der besonderen Sprache Georg Büchners schaffen, an dem sicher auch eine ältere Generation Spaß haben wird.

Hendrik Schücke: Ich meine auch nicht, dass man da total cringe spricht oder irgendwelche Anglizismen verwendet, sondern einfach normale Sprache, so wie wir miteinander sprechen.

Dorothea Hartmann: Das Theater hat ja viele unterschiedliche Kunstformen. Es gibt auch darstellende Kunst ohne Sprache: Tanz und Musik. Der Körper erzählt die Geschichte. Oder die Musik: Konzerte genießen, die komplett ohne Worte auskommen.

Esma Deliter: Dafür müsste man zunächst einmal mitbekommen, dass Kunst ohne Sprachhürde am Theater angeboten wird. Eine coole Idee, um meinen Vater ins Theater zu locken, wäre, seine traditionelle Musik zu spielen und danach mit anderen Leuten darüber zu sprechen. Das ist ja etwas, was bei Netflix zu Hause eben nicht passiert, da bleibt man am Ende immer alleine.

Dorothea Hartmann: Wir planen genau solch eine transkulturelle Musik-Band ab Herbst. Wir werden mit einem Open Call einladen, einfach mit dem Musikinstrument hier vorbei zu kommen und ganz locker zusammen zu spielen. Dabei sind vor allem die Instrumente und die Musik gefragt, die es im Theater noch nicht gibt. Vielleicht wäre das auch etwas für deinen Vater. Und ich bin auch sehr gespannt auf eine JUST-Produktion, die sich mit der griechischen Community in Wiesbaden beschäftigt: eine Stadtrecherche der Regisseurin Antigone Akgün. Sicher wird das auch ein vielsprachiges Projekt.

Hendrick Schücke: Ich hätte da noch eine Idee. Im Kino liegen ja manchmal so Notizbücher
aus, in denen man sich einen Film wünschen kann, der wird dann als Wunschfilm des Monats gezeigt. Vielleicht könnte man sich auch im Theater einfach mal Themen oder Stücke wünschen, die gezeigt werden?

Verfolgte und Verfolger, Täter und Opfer

Hendrik verabschiedet sich und Vero Moos, die seit vierzig Jahren den Malsaal im Staatstheater leitet, kommt dazu. Sie hat ein viel beachtetes Buch geschrieben: „Nachbarn“ sind zwei dokumentarische Briefsammlungen von zwei Familien, die in der Bahnhofstraße in Wiesbaden direkt nebeneinander lebten. Die einen waren Jüd*innen, die anderen bekennende Hitler-Anhänger*innen.

Sie sind Verfasserin und Herausgeberin von „Nachbarn. Bahnhofstraße 44/46“, ein Buch, das sich speziell mit deutschem Erbe – in Wiesbaden – auseinandersetzt. Sie haben den Briefwechsel Ihrer eigenen Familie ausgegraben und ihn gegenübergestellt mit dem Briefwechsel einer jüdischen Familie während der Nazizeit, die direkte Nachbarinnen waren. Wie ist es zu diesem Buch gekommen?

Vero Moos: Mir geht es darum, gegen das Vergessen zu arbeiten. Die Briefe der jüdischen Nachbar*innen fand ich im Hauptstaatsarchiv, nachdem ich über die Stolpersteine vor dem Haus stolperte. Die Briefe meiner eigenen Familie fand ich wohlsortiert in mehreren Ordnern im Archiv meines Vaters. Das war ein unfassbares Glück: dass ein so umfassender Briefwechsel erhalten ist, und zwar nahezu lückenlos, von Familien, die direkt nebeneinander gelebt haben. Diese Nachbar*innen repräsentieren Täter und Opfer und vermutlich kannten sie sich. Ich kann immer noch nicht darüber reden, ohne Gänsehaut zu bekommen. Natürlich trifft es mich, dass meine eigene Familie nationalsozialistisch war. Und genau das ist aber eine Aufgabe von Theater in unserer Gesellschaft, gerade jetzt zu verhindern, dass dies wieder passiert.

Ich bin heute in der Bahnhofstraße an den beiden wunderschönen alten Häusern vorbeigegangen, in denen die Familien lebten: Die eine war eine jüdische Familie, deren Sohn emigrieren musste und in der beide Eltern deportiert wurden.

Vero Moos: Sie sind ermordet worden von Leuten wie meinen eigenen Großeltern. Die beiden Familien hatten einen vergleichbaren Alltag, stammten nicht aus einer vergleichbaren sozialen Schicht. Die jüdischen Nachbar*innen waren Hausbesitzer*innen, während meine Großeltern als Mieter*innen im Nachbarhaus lebten. Man bekommt einen Blick in beide Familiengeschichten. Und so nah nebeneinander mussten sie das Leben aus extrem unterschiedlichen Perspektiven erleben, als Verfolgte und Verfolger, als Täter und Opfer. Und daneben taucht ein weiteres Motiv auf: Alle hatten ständig Sehnsucht – die Geflüchteten nach ihren Eltern, die Eltern nach Ihren Kindern, der Vater im Krieg nach seinen Kindern. Insofern waren die Sehnsüchte nicht weit voneinander entfernt. Was nichts daran ändert, dass die einen Schuld auf sich geladen haben.

Was kann Theater leisten, um diese auch schmerzlichen Widersprüche abzubilden?

Vero Moos: Theater erreicht im günstigsten Falle unglaublich viele Leute und im allergünstigsten jene, die nicht nur aus dem Bildungsbürgertum kommen Es gibt so viele Möglichkeiten, um Theater für unterschiedliche Gesellschaftsgruppen attraktiv zu machen. Ich kann mir vorstellen, dass das auch über ein verbindendes Thema funktionieren kann. Zum Beispiel mit dem Thema „Sehnsucht”. Jeder Mensch hat doch eine Art von Sehnsucht, jedem fehlt etwas, das kann eine universelle Brücke sein.

Beate Heine: Im Schauspiel werden wir uns dem Thema Sehnsucht und historisches Vermächtnis über den Roman von Thomas Hettche nähern. In „Herzfaden“ erzählt der Autor von der Gründung der Augsburger Puppenkiste – von einem Kriegsheimkehrer aus der Not heraus gegründet, von der Tochter fortgeführt – und setzt sich darüber mit der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland und unserer historischen Verantwortung auseinander.

Esma Deliter: Ich finde auch, Sehnsucht ist ein Thema, das jeden betrifft. Das kann Menschen verbinden und helfen, unterschiedliche Altersgruppen ins Theater zu bringen.

In diesem Moment kommt Abdullah Zadran herein, der zuvor schon ein fantastisches Catering geliefert hat, und setzt sich dazu.

Sie leiten das Restaurant und Catering „Fasan“ in Wiesbaden und stammen ursprünglich aus Afghanistan. Gehen Sie manchmal ins Theater?

Abdullah Zadran: Ja, natürlich. Klar. Aber ehrlicherweise muss ich zugeben, in letzter Zeit eher nicht, weil ich einfach keine Zeit hatte.

Was ist Ihre letzte Erinnerung daran?

Abdullah Zadran: Ich erinnere mich besonders an die Kunst-Biennale 2018. Das war wirklich spektakulär und wurde auch über Wiesbaden hinweg wahrgenommen und diskutiert. Ich war sehr fasziniert von den Performances und Installationen. Seitdem bin ich ein begeisterter Kunst- und Kulturanhänger. Und mir gefällt es, wenn das Theater rauskommt zu den Menschen und sie vor Ort abholt. Und Theater lebt durch die Kontroverse, ganz klar. Die Diskussion um die Erdoğan-Statue hat viele andere Installationen und Performances überschattet, die atemberaubend und fast größenwahnsinnig waren. Etwa die Mauer an der Reisinger-Anlage, oder die Non-Stop-Performance in der City-Passage. Eine riesige Autobrücke aus Holz wurde aufgebaut, um die PKW für das Autokino ins Staatstheater zu fahren. Nicht zu vergessen das „Migrantenstadl“. Die ganze Innenstadt hat vibriert. Und jeder hatte auf einmal das Bedürfnis, über Theater zu sprechen.

Sie, Herr Zadran, sind in Wiesbaden selbst Stadtgespräch: Ihre Mutter ist vor vielen Jahren allein mit ihren drei Kindern – Ihnen, Ihrer Schwester und Ihrem Bruder aus Afghanistan hergekommen und hat ein sehr erfolgreiches Restaurant aufgebaut, das „Fasan“. Leider ist Ihre Mutter bereits verstorben, Sie und Ihr Bruder führen es weiter und kommen mit vielen Bevölkerungsgruppen in Kontakt. Wie kann ein Theater erreichen, zum Stadtgespräch zu werden, als offen wahrgenommen zu werden?

Abdullah Zadran: Durch solche Gespräche, die wir gerade führen. Hier im „Wohnzimmer“: Das ist ein Ort meiner Jugend. Hier, wo wir gerade sitzen, habe ich ständig die Schule geschwänzt. Ich kann mich an Tage erinnern, da war dieser Ort komplett voll mit Jugendlichen, über drei Stockwerke, zwei Discos und ein Café. Es war ein Ort für Populärkultur. Theater, der Ort für Hochkultur, sollte diese Orte aufsuchen und zum Gespräch einladen, so wie jetzt gerade. Wie bekommt man auch Minderheiten, die mit Theater und der europäischen Hochkultur wenig zu tun haben, ins Theater? Das ist keine Sache, die man von heute auf morgen lernt.

Universelle Geschichten von Aufbruch und Sehnsucht

Die Schülerin Esma hat vorhin vorgeschlagen, dabei über die sprachliche Ebene zu gehen. Würde ein Stück auf Dari neues Publikum anziehen?

Abdullah Zadran: Ja, auf jeden Fall. In Afghanistan und Iran gibt es eine große Theaterkultur. Darüber kann man ins Gespräch kommen. Und: sich kennenlernen, durch Abende und Feste. Wir planen gerade eine konkrete Zusammenarbeit mit Kulturschaffenden und Bildungseinrichtungen: ein Kontakt zu all jenen Communities, die sonst eher ein Eigenleben führen und unter sich bleiben. Ich denke, man kann gegen Spaltung und Aufsplitterung arbeiten, indem man in diese Communities hineingeht und die Menschen direkt kontaktiert, so wie es meine Mutter immer getan hat. Bei uns waren immer Menschen aus vielen Kulturen zu Gast und sind durch ihr Essen ins Gespräch gekommen. Im Theater sollte gemeinsam gegessen werden!

Wie sind Sie denn ganz konkret zum ersten Mal ins Theater gekommen?

Abdullah Zadran: Das war durch die Schule, in der 3. Klasse. Wir haben das Weihnachtsmärchen „Frau Holle“ gesehen.

Hat es Ihnen gefallen damals?

Abdullah Zadran: Ich habe es nicht verstanden, denn ich kannte das Märchen nicht. Ich wusste nicht, um was es geht.

Aber muss man das überhaupt? Warum sollten Migrant*innen an ein Erbe, das nicht ihres ist, herangeführt werden?

Abdullah Zadran: Für mich war es wichtig, diese Kultur kennenzulernen, um zu verstehen, wie Menschen hier ticken und dass das historisch gewachsen ist. Warum ist hier die Gleichstellung von Mann und Frau so wichtig? Das ist ja nicht von heute auf morgen gekommen, sondern historisch verankert. Verständnis und Vermittlung sind wichtig, wenn man in dieser Gesellschaft ankommen möchte.

Thilo von Debschitz von der Design Agentur Q setzt sich zur Runde auf dem Sofa dazu. Abdullah Zadran muss wieder zur Arbeit zurück und verlässt die Runde.

Thilo von Debschitz, auch Ihr Name ist mit der Geschichte eines jüdischen Menschen auf der Flucht verbunden: Ihre Agentur hat mit rotarischer Unterstützung das literarische Erbe des Dichters Curt Bloch auf der Webseite curt-bloch.com zugänglich gemacht. Wie kam es dazu?

Thilo von Debschitz: Curt Bloch war ein Dortmunder Jude, der 1933 am Beginn seiner juristischen Karriere stand. Dann kamen die Nazis an die Macht und jüdischen Bürger*innen war die Ausübung von Rechtsberufen verboten. Also floh er in die Niederlande, tauchte dann unter. Von 1942 bis zum Ende des Krieges lebte er im Versteck. Dort schrieb und veröffentlichte er fast fünfhundert satirische Gedichte, die er in kleinen Heften veröffentlichte. Für die Verbreitung von Spottgedichten auf Adolf Hitler sind zu dieser Zeit Menschen umgebracht worden. Insgesamt sind sechsundneunzig kleine Hefte bis heute erhalten. Curt Bloch überlebte und ist nach New York gegangen.

Wie kamen Sie in Kontakt mit den Schriften?

Thilo von Debschitz: Bis vor wenigen Monaten lagen bei der Familie Bloch in New York die Hefte in einer Kiste. Simone Bloch, seine Tochter, kontaktierte mich auf Facebook. Ich hatte mit meiner Schwester ein Buch über Fritz Kahn gemacht, einen Autor der Weimarer Republik, dessen Werke der nationalsozialistischen Kulturzensur zum Opfer gefallen sind. Auf dieses Buch ist Simone Bloch gestoßen, und sie hoffte, dass ich ihr helfe, den kreativen Nachlass ihres Vaters und Ehemannes zurück nach Europa zu bringen. Als ich die Hefte gesehen habe, haben sie mich erst einmal als Gestalter angesprochen, weil sie ganz fantastische, collagierte Titelseiten haben. Curt Bloch hat aus Zeitschriften, die er von seinen Helfern erhielt, Dinge und Buchstaben ausgeschnitten und zu Collagen geklebt.

Was sind das für Gedichte?

Thilo von Debschitz: Die Beschäftigung damit ist eine Achterbahnfahrt der Gefühle. Zum einen kann man den Spott und die Kritik an den Faschisten zeithistorisch unmittelbar nachvollziehen: Was passierte da? Zum anderen blickt man in die Seele eines Menschen, der in Lebensgefahr schwebt, der sich Sorgen um seine engsten Angehörigen macht. Während er bewegende Gedichte an seine geliebte Schwester und an seine Mutter schrieb, waren diese bereits im KZ Sobibór ermordet worden. Wenn man seine Gedichte liest, diese Sehnsucht nach Frieden, dann sind das Gefühle, die wir jetzt auch erleben. Und sie reimen sich in einer ganz tollen Lyrik, man denkt an Erich Kästner, an Kurt Tucholsky. In der leichten Form des Reimes hat man niederschwelligen Zugang zu schwerem Inhalt. Es ist ein Erbe, das unbedingt wert ist, bewahrt zu werden.

Was würden Sie jungen Menschen entgegnen, die das in Zweifel ziehen und sagen: Müssen wir heute wirklich noch alte Gedichte lesen?

Thilo von Debschitz: Die Gedichte sind kurz, haben einen Rhythmus, der an Poetry Slam erinnert. Oder sogar an Rap, man könnte unter einige direkt einen Musikbeat legen. Und sie sind nicht alle nur schrecklich, sondern manche auch schreiend komisch. Wir gehen mit den Gedichten in Schulen und merken, wie Schüler*innen andocken.

Jutta Leimbert, seit 2008 Inhaberin der Buchhandlung Vaternahm, wenige Hundert Meter vom Theater entfernt kommt herein und setzt sich dazu. Sie kennt das Staatstheater Wiesbaden in- und auswendig, da sie schon seit Jahrzehnten ein Premieren-Abonnement hat. Wenig später nehmen auch die Lehrerin Maja Stunz und ihr ehemaliger Schüler Leo Scholz Platz. Er ist neunzehn Jahre alt und BWL-Student im 2. Semester.

Frau Leimbert, schön, dass Sie zu uns stoßen. Können Sie sich noch daran erinnern, wann Sie das erste Mal im Theater waren?

Jutta Leimbert: Das kann ich nicht so genau sagen. Ich weiß nur, dass ich früher zweimal in der Woche mit Einkaufstüten von der Arbeit direkt ins Theater gegangen bin. Das war in den 1970er Jahren, als das Schauspiel während der Sanierung des Theaters im Caligari untergebracht war. Gefühlt habe ich schon seit immer ein Premieren-Abo, ich will alles möglichst sofort sehen. Leute, die zu mir in den Buchladen kommen, fragen mich: Und wie war es? Sollen wir da reingehen? Ich bin fast so etwas wie eine Sprecherin des Theaters.

Frau Stunz, eine Sprecherin des Theaters sind Sie auch: Sie gehen häufig mit Ihren Schüler*innen in Vorstellungen.

Maja Stunz: Ja, Ich habe mir vorgenommen, mit jeder Klasse und jedem Kurs in die Oper zu gehen. Wir bereiten das in der Schule vor. Und dann gehen wir auch fünf Stunden in eine Wagner-Oper wie „Tristan und Isolde“.

Warum glauben Sie, ist es überhaupt wichtig, dass junge Menschen ins Theater gehen?

Maja Stunz: Ein Schüler sagte mal zu mir, er habe genug Computerspiele während der Corona-Zeit gespielt, er brauche jetzt etwas anderes. Und Theater läuft eben nicht über einen Bildschirm. Man ist zusammen, es ist ein Gemeinschaftserlebnis. Das kann man nicht ersetzen. Das verschwindet nicht.

Die wichtigsten Argumente für einen Theaterbesuch sind also die „Liveness“ und das Gemeinschaftserlebnis, gilt das auch für dich, Leo?

Leo Scholz: Ja, auch die Gesellschaft von anderen Menschen um mich herum ist ein wichtiger Punkt. Da kann man in den Pausen fachsimpeln, das macht Spaß, vor allem, wenn man Stücke zwei Mal sieht.

Ernsthaft, du siehst manchmal Stücke zweimal? Wie oft gehst du ins Theater?

Leo Scholz: Ich habe das Gefühl, beim zweiten Mal bekomme ich einfach ein tieferes Verständnis vom Stück. Ich kann sehen: Wurde da was am Bühnenbild verändert, wie sind die Sänger *innen heute drauf? Im letzten Semester war ich vier Mal in der Oper. Aber Freunde sagen schon manchmal: Was machst du in der Oper? Du bist doch viel zu jung dafür. Ich sage dann immer: Geh doch mal hin, dann weißt du, was da überhaupt abgeht.

Thilo von Debschitz: Auch mit Tanz kann man junge Menschen sehr gut erreichen. Ich habe im Freundeskreis meiner Tochter schon oft gesagt: So, jetzt eine Mutprobe. Wer geht mit zum Tanz? Da öffnet sich für sie ein neuer Kosmos. Sie waren teilweise noch nie im Theater, und dann erleben sie die Körperlichkeit des Tanzes, das ist faszinierend für sie.

Maja Stunz: Wobei ich es schade finde, dass es in Wiesbaden kaum möglich ist, klassisches Ballett zu sehen.

Leo Scholz: Ja, das geht mir auch so, und da bin ich nicht der einzige: Wenn ich mit Freund*innen ins Ballett oder auch in die Oper gehe, sind wir uns oft einig, dass uns die Umsetzung des Stoffs zu modern ist. Das war auch schon in meiner Schulzeit so. Nach meiner Erfahrung wünschen sich auch Jugendliche und junge Erwachsene manchmal klassischere Inszenierungen.

Es gibt viele Menschen, die das klassische Handlungsballett wiederhaben wollen. Dazu gab es in der Zeitung ganze Leser*innenbriefschlachten. Jutta Leimbert, der frühere Intendant Claus Leininger hat gesagt: Die Wiesbadener*innen sind „altgierig“ und nicht neugierig. Sehen Sie das auch so?

Jutta Leimbert: Da ist etwas dran. Es gibt Operetten, die man hier Tag und Nacht spielen könnte und sie wären immer ausverkauft. Wagner ist sensationell verkauft. Mozart wäre auch immer voll. Aber Neues oder Unbekanntes, da muss man erstmal die anderen fragen, wie es war.

Ich habe eine letzte Frage an Sie, die mir am Herzen liegt. Aus Ihrer Perspektive als langjährige Buchhändlerin: Sehen Sie das Digitale als Gefahr für die Weiterexistenz der Literatur, des Schriftlichen, kultureller Resonanzräume, wie sie durch Literatur und Theater vermittelt werden?

Jutta Leimbert: Literatur und Theater werden weiterbestehen. Da bin ich mir ganz sicher. Auch das Erzählen in Schriftform wird nie verloren gehen. Allein auf TikTok oder Instagram wird ja mittlerweile auch sehr viel über Bücher gesprochen. Für diese Werke haben wir jetzt in der Buchhandlung sogar ein eigenes Regal. Man muss sich ein wenig kümmern, damit Jugendliche einen Zugang dazu erhalten. Und dann bin ich auch nicht pessimistisch.

Sollten Musik und Kunst eine höhere Bedeutung in der Schule bekommen? Vielleicht sollten wir uns alle dafür einsetzen, dass Kultur insgesamt bildungspolitisch stärker verankert wird – auch in der Lehrer*innenausbildung, damit es nicht der Einzelinitiative von Lehrer*innen wie Maja Stunz überlassen wird.

Thilo von Debschitz: Unbedingt. Eine meiner Töchter war auf der Waldorfschule, dort erarbeitet jede Klasse zwei große Theaterstücke. In der Klasse wurde ein Orchester von allen gebildet. Diese Art von Kreativität muss einfach in die Schulen hinein. Wenn es so verankert wird in der Grundbildung, dass die Schüler*innen mit Kultur aufwachsen, wird das der ganzen Gesellschaft zu Gute kommen.

Maja Stunz: Richtig, das Theater lebt und kann seine Faszination entfalten. Wir müssen einfach die Kinder mitnehmen und hingehen. Anfangen, dranbleiben, hartnäckig sein.

to be continued